AOL-Revival, der Tod der URL und Apples Rolle

rj, den 20. Februar 2010
AOL im Jahr 2003
AOL im Jahr 2003, Screenshot via Alvar

Sie riecht noch nicht komisch, aber dass die URL augenblicklich ein wenig kränkelt, ist nicht nur angesichts der Appflut eine naheliegende Vermutung. Apple trägt seinen Anteil an der aktuellen AOLisierung des Internet: „Theres an App for that“ gilt immer häufiger für Anwendungen, die auch bestens im Browser aufgehoben wären. Der Trend geht weg vom weit vernetzten Web hin zu zahlreichen Inselangeboten, die in der Regel von den üblichen Big Playern stammen. Das WWW als eine App unter vielen scheint heute wieder in der Position zu sein, wie man sie von Onlinediensten der 90er kannte. Nur scheint das Prinzip heute erfolgreicher zu funktionieren.

Wireds Demo einer möglichen iPad-App zeigt schon, wo es hingehen könnte: eine durchaus beeindruckende Applikation, deren Features indes auch via Browser umsetzbar wären. Stattdessen wählt man die separate App. Diese bietet natürlich mehr Möglichkeiten, Nutzungen einzuschränken bzw. nur gegen Bezahlung freizuschalten, und weiter ist das Verlassen des Wired-Angebots eben keinen Mausklick, sondern immerhin einen App-Wechsel weit weg. Und damit sind bereits die beiden Haupttrends genannt: App statt URL (eine Entwicklung, an der Apple maßgeblichen Anteil hat), sowie die zunehmende Abschirmung des Users vor dem bösen Rest-Internet (wofür Apple weniger kann).

Was Wired demonstriert, sieht definitiv schöner aus als die Interfaceunfälle, mit denen sich Kunden von AOL und anderen Online-Diensten in den 90ern herumschlagen mussten. Im Endeffekt ist das zugrundeliegende Prinzip jedoch dasselbe: Statt einer „Universalmaschine Browser“ werden dem User eine ganze Batterie von „Spezalmaschinen“ präsentiert, die alle auf ihre Art den Medienzugriff möglichst beschränken. Der universale Zugriff auf Webinhalte wird einerseits immer mehr versteckt, andererseits scheint er immer weniger gewünscht. Zudem fallen die lästigen Begleiterscheinungen des „Standardbrowsers“ – Möglichkeit für lokale Kopien, Quelltextansicht etc. – auf der App-Ebene in der Regel weg.

In jenen Apps, die tatsächlich insbesondere den Zugriff auf ansonsten vollkommen „webfähige“ Inhalte ermöglichen, ist das besonders deutlich. Auch im Web selber ist das „Abkapselungsbestreben“ der Contentanbieter schon lange präsent – das beginnt bei der gern gepflegten Aversion gegen externe Links, setzt sich fort mit den „Zwischenseiten“, auf denen das Verlassen einer Site nochmals bestätigt werden soll bis hin zum Einbinden externer Inhalte über Framesets, wie man es beispielsweise von manchen Personensuchmaschinen oder Google Translate kennt. Ende 2009 trug Chris Messina viele Indizien dieser Art zusammen, die auf die zunehmende Randständigkeit der URL hindeuten – teils alt, teils neu.

Apple, der Verstärker…

Der Hype um die Apps befördert diesen Trend natürlich aufs effektivste und verschafft ihm eine technisch passende Plattform – denn in einer App ist ohnehin in der Regel nur der Content des Anbieters. Die „App-Metapher“ auf dem Desktop tut ihr Übriges – unter der App-Auswahl eines iPhone oder iPod ist „das Web“ nur eine (visuell gleichberechtigte) Wahl unter anderen. Und natürlich weckte Apple mit iPhone, iPad und Co. die Begehrlichkeiten all jener, die bereits vor der Jahrtausendwende angesichts des kostenlosen Contents im Web die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Eine zweite Chance, bei der man den Fehler vermeiden möchte, freien und kostenlosen Zugang zu Inhalten zum Standard zu machen?

…und ausgerechnet Google

Den Suchgiganten darf man in dieser Frage nicht vergessen – denn auch Google neigt vermehrt dazu, das Netz nicht nur metaphorisch zu vereinnahmen. Beginnend mit Vorschauen auf SERPS über die Frame-Einbindungen anderer Webseiten bis hin zu Buzz, das paradoxerweise sowohl Linkschleuder ist als auch potentieller Grund, Googles Angebote gar nicht mehr zu verlassen – Dienste und Features, die selbstredend alle ihren praktischen Wert haben, schaffen nichtsdestoweniger in der Summe einen Effekt hin zum „Google-Internet“. Auf der Android-Plattform wird diese „Googlisierung“ noch etwas drastischer sichtbar. Sukzessive die eigene Insel im Netz baut aktuell auch Facebook, wo die Umarmung externer Inhalte und Plattformen langsam zur Inklusion ebendieser Inhalte und Informationen auf Facebook-Seiten führt, deren Nutzer ihr FB-Universum immer seltener verlassen müssen, werden doch die Inhalte von draußen permanent hereingetragen.

Die Parallelen sind da: früher boten AOL, Compuserve und Konsorten einen „Onlinedienst“ an, der unter anderem auch einen Zugang zum Internet beinhaltete, aber bis hin zu Basismetaphern wie der des Hypertextlinks eigene Süppchen in separaten Töpfchen kochten. Heute tun das die Webgrößen Google und Facebook, heute fördert dies aber auch Apple mit der Metaphorik ihrer Userinterfaces.

Nun ist es nichts Neues, dass der Anteil der „Big Player“ am Internetkonsum der User permanent zunimmt. Der Trend wird durch viele Methoden gefördert – begonnen mit den Werbemöglichkeiten über die angesprochene Site-Inzucht bis hin zu Interface-Philosophien. Letzteres auch auf Kosten der Useability, denn Apps skalieren weitaus schlechter als URLs. Bookmarkverwaltung ist selten eine reine Freude, aber selbst die Standardlösungen der Browser skalieren bei wachsender Linkzahl weitaus besser als eine Reihe iPhone-Screens voller App-Icons. Auch mehr Platz auf dem iPad-Desktop wird daran nichts ändern.

Gegentrends?

Die existieren selbstverständlich auch – der Linkschleudercharakter von Buzz wurde schon genannt, selbiges gilt für (das in vielen Apps umgesetzte) Twitter. Augmented-Reality-Apps scheinen von so etwas wie der Pflicht zur Wikipediaverlinkung heimgesucht zu sein – es gibt Anwendungsfälle in der „Appisierung“ des Internet, bei denen Links in Kontexten erscheinen, in denen man sie sich noch vor wenigen Jahren nicht bzw. kaum vorstellen konnte. Zu guter Letzt: trotz aller „Inkludierung“ sind Google und Facebook nach wie vor die größten „Verteilerknoten“ im Netz, die User auf externe Seiten weiterleiten (wobei die jüngst von Facebook in manchen Sparten errungene Spitzenposition zeigt, dass dieser Zustand ein höchst dynamischer ist).

Darüber hinaus ist die Vorannahme willkürlich, diese Prozesse negativ zu bewerten und die „Universalmetapher“ Netz den „Spezialmetaphern“ Buch, Magazin, etc. vorzuziehen. Die Metaphern eines iPad sind definitiv näher an der Lebenswelt der meisten Menschen und schaffen somit auch Zugänge, die es anders nicht in diesem Maß geben würde.

Schlussfolgerungen?

Es ist schwierig, mit dem Finger auf konkrete Akteure der „AOLisierung“ zu zeigen – denn schließlich stehen die meisten Möglichkeiten zur gepflegten Netznutzung auch auf Apples Plattformen zur Verfügung (sieht man von Flash ab). Die Entscheidung zwischen App, Webangebot oder beidem bleibt den Contentanbietern überlassen, und diejenige der Nutzung wiederum den Usern. Dennoch summieren sich aktuell viele Faktoren – die Einstiegshürden in Sachen Apps, die Prominenz der Platzhirsche auf den Interfaces, den Startscreens und in den Default-Einstellungen. Einschränkungen der Wahlfreiheit entstehen bei proprietären Lösungen trotzdem durch die immense Gruppendynamik – viele Netzuser werden alleine mit E-Mail nicht mehr den asynchronen Kontakt zu den Freunden pflegen können, die dafür nun diverse Social Networks nutzen. Darüber hinaus sind die neuen Optionen für die Anbieter attraktiv – die „Appisierung“ des Internet ist die Chance schlechthin, Inhalte besser zu monetarisieren, die während des ersten Dotcom-Hypes um die Jahrtausendwende noch mit den gegebenen Mitteln frei ins Web gestellt wurden. Hierzu angemerkt: wenn mit hochwertigem Content auch jenseits von Werbeplätzen Verdienstmöglichkeiten entstehen, kann das dem Medienangebot auch durchaus guttun.

In den 90ern versuchten besagte Onlinedienste für lange Zeit, ihre eigene Parallelwelt zum „richtigen Internet“ zu schaffen. Der Erfolg blieb mittelfristig aus, die Mittel, mit denen er erreicht werden sollte, wurden von Alvar Freude und Dragan Espenschied 2001 im Rahmen einer auch in anderer Hinsicht nach wie vor hochaktuellen Arbeit beschrieben. Fünfzehn Jahre später sieht die neue „AOLisieriung“ immerhin nicht mehr wie AOL aus. Das Prinzip unter der schicken Oberfläche schon viel eher.


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