Indien: Immer eine Vergewaltigung wert, nur vor der Haustür kehrt niemand

Alexander Trust, den 4. Januar 2015
Gateway of India
Gateway of India, Foto: „Rhaessner via Wikimedia (CC BY-SA 3.0).

Eine Studentin ging Menschenfängern in Indien in die Falle, schreibt die BILD Zeitung. Die Täter seien Touristenführer gewesen, erklärt Focus Online. Die Tagesschau erinnert Besucher ihrer Webseite daran, dass ein neuer Fall von Gruppenvergewaltigung in Indien stattgefunden habe. Die Welt, die FAZ, der Stern, ja selbst ein Regionalblatt wie die Augsburger Allgemeine kommt nicht umhin, über den Fall zu berichten.

Dass in der eigenen Stadt und im eigenen Land aber genauso Frauen (und Männer) vergewaltigt werden, und dass Indien gar nicht das Land mit der höchsten Vergewaltigungs-Rate pro 100.000 Personen ist, ist des Trends wegen unter den Teppich zu kehren. Dabei würde es sich anbieten, ebenso vor der eigenen Haustür zu kehren.

Indien ist laut unseren Mainstream-Medien quasi immer eine Vergewaltigung wert. Dass in Indien Vergewaltigung ein Thema ist, ist nicht in Abrede zu stellen. Handelt es sich heute um eine japanische Studentin, war es erst zwei Tage zuvor ein minderjähriges Mädchen und waren es einheimische wie ausländische Frauen in den letzten Wochen und Monaten, die vermehrt als Opfer von Indiens triebgesteuerten Männern regelmäßig auf Seite 1 zu finden waren.

Alle 22 Minuten eine Vergewaltigung in Indien

Gerade die Springer-Medien zitieren eine Regierungsstatistik Indiens, derzufolge alle 22 Minuten eine Vergewaltigung in Indien stattfindet. Als Frau nach Indien zu reisen ist vor diesem Hintergrund äußerst fahrlässig, oder? Denn: diese Statistik (PDF, 24,3 MB) gibt es tatsächlich und sie ist nicht nur eine Erfindung der Regenbogen-Presse. Trotzdem kenne ich Frauen, die nach Indien reisen – allein. Doch wenn man sich die Zahlen ansieht, muss man sie in einen übergeordneten Kontext setzen und sie vergleichen. Denn mitunter ist es gefährlicher als Frau allein in die USA zu verreisen, weil die Wahrscheinlichkeit Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden, dort sogar größer ist.

Das „National Crime Records Bureau“ (NCRB) Indiens meldet jährlich die Zahl „gemeldeter“ Vergewaltigungen und anderer Sexualverbrechen. Man kann seit 2007 eine Steigerung der Zahl der Vergewaltigungen feststellen, zumindest in der Statistik. Latent schwingt eine nicht bezifferbare Dunkelziffer wie ein Damoklesschwert über diesem und weiteren Datenbeständen, wenngleich es wohl der medialen Aufmerksamkeit geschuldet ist, dass vor Ort mehr und mehr Vergewaltigungen zur Anklage kommen. Also ist das Hinsehen in Indien wichtig und richtig.

Hinschauen anderswo lohnt sich

2012 gab es in Indien pro 100 000 Personen 2 Vergewaltigungen. 2013 ist diese Zahl noch gestiegen. Dass aber Indien damit keinesfalls preisverdächtig ist, wird von den deutschen Medien ignoriert. Selbst bei der Gesamtzahl der Vergewaltigungen kommt Indien „nur“ auf 33 707 gemeldeter Fälle. Im Vergleich dazu lag die durchschnittliche Zahl von gemeldeten Vergewaltigungen in den USA zuletzt noch immer bei rund 89 000. 2011 wurde in den USA alle 6,2 Minuten eine Frau vergewaltigt. Selbst wenn sich dieser Wert seither etwas gebessert hat, ist es rein statistisch wahrscheinlicher in den USA vergewaltigt zu werden als in Indien. Doch für diese Wahrheit scheinen sich die Medien nicht zu interessieren.

Im Sommer unternahm Jan Ross in der Zeit eine Analyse der Vergewaltigungen in Indien und schrieb:

Täglich werden in Indien Frauen vergewaltigt, manchmal mit tödlichen Folgen.
Jan Ross

Tatsache ist, dass es viele andere Länder gibt, in denen ebenfalls täglich Frauen vergewaltigt werden, sogar mit tödlichen Folgen. Ross zitierte eine Anwältin, derzufolge die Ungleichstellung von Mann und Frau in der indischen Gesellschaft Schuld an den massenhaften Vergewaltigungen sei. Nehmen wir einmal an, das stimmt, dann ist es um die Gleichstellung der Geschlechter in den USA aber noch schlechter bestellt und in vielen anderen Ländern sowieso, und das wäre durch Statistiken der dortigen Strafverfolgungsbehörden belegbar. Zahlenmäßig war 2012 Südafrika das Land mit der höchsten Vergewaltigungsrate. Dort kam man auf 114,9 gemeldeter Vergewaltigungen pro 100.000 Personen.

In Europa sind die skandinavischen Länder hingegen sehr weit vorne. 2012 kamen in Schweden 66,5 Vergewaltigungen auf 100.000 Personen. In Dänemark stellt sich statistisch die Situation zwar ganz anders dar, weil dort lediglich 500 Vergewaltigungen gemeldet wurden. Doch Studien der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte geben an, dass Dänemark trotz niedriger Meldequoten die höchste Rate körperlicher und sexueller Gewalt gegen Frauen in Europa aufweist. Ob das mit dem Wetter dort zu tun hat? Tatsache ist, dass die Erklärungsversuche überall, bei genauerem Hinsehen versagen. Die Dinge sind nicht so einfach, wie sie sich darstellen.

Deutschland, immer eine Reise wert?

Richten wir den Blick auf Deutschland, stellen wir fest, dass unsere Demokratie es erst 1997 geschafft hat, die Vergewaltigung im Rahmen häuslicher Gewalt ebenfalls unter Strafe zu stellen. Der Gesetzestext sprach davor explizit von außerehelicher Vergewaltigung, die unter Strafe steht. Damit war Deutschland eines der letzten westlichen Länder, das diese Gräueltat verurteilte.

2011 wurden in Deutschland 7 539 Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe gemeldet. Das entspricht einer Rate von 9,2 sexuellen Übergriffen pro 100.000 Personen. 2013 ist der Wert identisch, nachdem er 2012 auf 9,8 angestiegen war. Seit 1999 bewegt er sich jedoch ungefähr auf einem Level und offenbar ist es in dieser Zeit nicht gelungen, die Zahl Übergriffe in einer so fortschrittlichen und wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft in irgendeiner Form zu reduzieren.

Statistisch kann man keine eindeutige Aussage darüber treffen, ob die Vergewaltigungsrate in Indien geringer als in Deutschland ist, weil das Bundeskriminalamt es nicht für nötig hält, die Zahlen explizit auszuweisen und Vergewaltigungen von anderen sexuellen Übergriffen zu trennen. Doch auch die indische Gesetzgebung dokumentiert nach dem 3. Februar 2013 nicht mehr länger nur Vergewaltigungen, sondern auch sexuelle Übergriffe, da die Paragraphen weiter gefasst wurden. Trotzdem muss man fragen, wieso ausgerechnet Fälle der Vergewaltigung aus Indien regelmäßig auf Seite 1 der Gazetten in Deutschland landen? Warum kehrt man nicht vor der eigenen Haustür? Tatsächlich findet man Meldungen über Vergewaltigungen im eigenen Land bei der Springer-Presse häufig nur auf den Regionalseiten und man muss schon Regionalzeitungen aufsuchen, um darüber prominent aufgeklärt zu werden. Einfacher ist es da, sich die offiziellen Pressemitteilungen der Polizeidienststellen für die eigene Region anzusehen oder via RSS zu abonnieren.

Aachen nicht frei von Vergewaltigung

Ich kenne selbst ein Vergewaltigungsopfer aus Aachen. Sie musste nicht in Indien Urlaub machen, um dieses Schicksal zu erleiden, sondern nur auf einer Straße ihrer Stadt spazieren. 2014 wurden natürlich auch in der Kaiser- und Studentenstadt Frauen vergewaltigt. Beispielsweise gab es in der zweiten Jahreshälfte (November) einen Serienvergewaltiger, der Frauen auf einer beliebten Jogger-Strecke auflauerte. Zu Jahresbeginn (Februar) stand außerdem ein 15-Jähriger vor Gericht, der eine 64-Jährige vergewaltigt hatte. Im August wurde in der Region Heinsberg bei Aachen nach zwei Vergewaltigern gefahndet. Medienwirksam wurde aber vor allem der Fall des „Schlager-Stars“ Nic auch überregional beschrieben, gegen den die Staatsanwaltschaft Aachen im November 2014 Anklage „wegen Körperverletzung, sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung“ erhob, in gleich mehreren Fällen. Es verging eigentlich kein Monat ohne Meldungen über Vergewaltigungen in Aachen.

Die „Leiden“ der Opfer, ganz gleich wo auf der Welt, muss man nicht gegeneinander aufwiegen. Meiner Meinung nach muss man nicht weniger über die Vergewaltigungen in Indien berichten, sondern vor allem mehr über diejenigen in der eigenen Stadt und im eigenen Land. Die einseitige Berichterstattung führt eher zu Vorurteilen gegenüber dem Ausland. Dass Frauen in den USA nicht sicherer als in Indien sind, belegen die Zahlen.


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