Bokeh, oder wie Apple Jahre über Porträtfotos stritt
Alexander Trust, den 27. Oktober 2020Im Harvard Business Review (HBR) ist aktuell wieder einer dieser seltenen Hintergrundartikel erschienen, die aufzeigen, wie viel Liebe zum Detail Apple an den Tag legen kann, wenn es denn möchte. Wie viele Personen an der Entwicklung des Bokeh-Effekts für die iPhone-Kamera beteiligt waren, und wie viel diskutiert und debattiert wurde, um eine Funktion zu integrieren, die es davor schon gab, ist erstaunlich.
Natürlich soll man sich wundern dürfen, aber es wäre falsch, aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen. Denn nur weil Apple viel Liebe zum Detail an den Tag legen kann, heißt es nicht automatisch, dass es das immer tut, oder dass immer alles glattläuft in Cupertino.
2009 hat jemand die Idee
Apple-Mitarbeiter Paul Hubel fand 2009, es wäre gut, wenn iPhone-Nutzer Fotos schießen könnten, die den von Spiegelreflexkameras bekannten Bokeh-Effekt unterstützten. Dabei wird meist ein Objekt im Vordergrund in den Fokus genommen und der Hintergrund mit Absicht unscharf gezeichnet, um den Blick auf das Motiv zu lenken.
Im HBR skizzieren die Autoren Joel M. Podolny und Morten T. Hansen, wie Apple seine Organisation der Innovation unterordnet und das „Think Different“ mit Leben füllt. Es ist dabei kein neues Thema. In vielen Büchern über Apple wurde das Für und Wider der Firmenstruktur und Arbeitsweise schon mehrfach erläutert. Apple arbeitet in Gruppen mit unterschiedlicher Expertise, die sich immer wieder neu befruchten können. Projekte wollen und sollen gar nicht unbedingt beim ersten Mal abgenickt werden. Stattdessen geht es darum, das Haar in der Suppe zu finden, um notfalls alles noch einmal komplett umzuschmeißen.
Bokeh ja, aber nicht um jeden Preis
Mit der Idee des Bokeh-Effekts jedenfalls rannte Paul Hubel bei Apples Kamera-Team offene Türen ein. Am Ende, so die Hoffnung, würden vermutlich mehr Leute, häufiger bessere Fotos schießen.
In der Retrospektive klingt es so, als seien Hubel und das Team um ihn herum ein großes Risiko eingegangen. Wenn die Funktion nicht überzeugt hätte, hätte man vermutlich die eigene Glaubwürdigkeit und das Ansehen im Unternehmen beschädigt.
Technologie nur ohne Kompromisse?
Wir erfahren bei HBR, dass Apple beinahe an seinem eigenen Anspruch gescheitert wäre, den Bokeh-Effekt zu realisieren. Denn es gab Grenzfälle, in denen der Algorithmus ein unerwünschtes Ergebnis erzeugte. Wenn andere Objekte im Hintergrund zu nah an der Person im Vordergrund waren, wurden Teile der Bilder falsch interpretiert und mit Effekten versehen.
Die Ergebnisse dieser Grenzfälle führten zu einem harten Ringen und weil aber Paul Hubel zwar die Idee hatte, aber nicht zwingend sofort eine Lösung präsentieren konnte, hätte er sich beinahe lächerlich gemacht. Die Einführung des Bokeh-Features wurde schließlich ein ganzes Jahr verschoben. So viel Zeit benötigte Apple, damit das Ergebnis dem eigenen Anspruch genügt.
Alle entscheiden zusammen
Am Ende entschieden auch Design-Teams und Marketing-Mitarbeiter über Wohl und Wehe der Funktion. Apple legt Wert darauf, dass möglichst viele Meinungen gehört werden, damit das Ergebnis auf möglichst breiten Konsens im Unternehmen fällt. So kann man es später auch besser nach außen vertreten.
Schließlich führte Apple die Porträtfunktion mit Bokeh-Effekt dann mit dem iPhone 7 Plus ein. Bis dahin hatten aber auch Hardware-Ingenieure sich Gedanken machen müssen, wie man geschickt die notwendige Technik im iPhone unterbringt.
2020: Bokeh auch ohne zweite Kamera
Apple entwickelte sich selbst und seine Produkte aber weiter. Die Porträtfotografie ist entsprechend nicht stehen geblieben. Schon mit dem iPhone XR und dann mit dem neuen iPhone SE, die beide nur über eine einzelne Kamera verfügen, lassen sich mittlerweile tolle Bokeh-Effekte erzielen. Das liegt an Apples neuem Lieblingswort, der computerisierten Fotografie (engl. „computational photography“). Maschinenlern-Algorithmen sind in der Lage Vorder- und Hintergrund auch ohne zwei unterschiedliche Kameralinsen voneinander zu unterscheiden.
Wer noch mehr über Apples Struktur erfahren möchte, dem empfehlen wir den Beitrag im HBR. Denn in dem Beitrag erfährt man auch, welche unorthodoxen Strukturen aus der Zeit von Steve Jobs noch heute Geltung haben, und dabei helfen, das Unternehmen erfolgreich sein zu lassen.