Kolumne: Crisis? What Crisis?
rj, den 10. Juli 2009Der Alternativtitel „Apple schafft Jobs“ muss bei der heutigen Kolumne der Frage nach der Krise weichen: denn der passt besser zu der Milliarde Dollar, die Apple in ein neues Rechenzentrum investiert, während finanzkrisengeschädigte iPhone-Nutzer wenigstens Banker virtuell totquetschen können. Das, ein paar Gedanken zu Zahlenanalphabetismus, dem Niedergang der OS-Wars und sterbenden Technologien zum Wochenende.
Neues Rechenzentrum
Das neue Rechenzentrum Apples im South Carolina soll auf einer Fläche von „200 Acker in Maiden“ entstehen. Wenn schon Google Translate, dann wäre ein „Acker in Jungfrau“ naheliegender gewesen. 200 „Acres“ entsprechen ungefähr 800.000 Quadratmetern. Das RZ selber wird indes „nur“ um die 50.000 Quadratmeter Fläche haben. Ob man in South Carolina so grün und umweltschonend Rechner laufen lassen kann wie im geplanten größten RZ weltweit in Schottland, muss sich weisen. Aber alleine schon der Rechnerpornofaktor von 50.000 Quadratmetern voller Apple-Server ist schwer zu toppen.
Jedenfalls investiert Apple gegen den Trend: die Welt ächzt währenddessen unter der Krise. Wer immer noch den Frust gegen die fiesen Banker schiebt, kann sich mit einer der geschmackloserer App-Zulassungen der letzten Tage die Laune verbessern.
Squash the $treets
Seit Dienstag hoffe ich täglich, dass „Squash the $treets“ nicht aus dem App Store fliegt, damit ich das fröhliche Banker-Zerquetschen in der Wochenendkolumne würdigen kann, noch ist es da. Ab 12 Jahren freigegeben, und wer mir erklärt, wo die „erotischen Anspielungen“ im Spiel sein sollen, die für die Einstufung mit verantwortlich sind, kriegt ein Dankeschön.
Der Vollständigkeit halber: Ein Spiel mit direktem Banken- und Krisenbezug, bei dem wegen ein paar lächerlichen tausend Dollar Miesen der Bankrott und Game Over folgt, ist selbstverständlich vollkommen unrealistisch. Die Schreie beim Quetschen seien hingegen von „echten Bankern“. Gameplaytechnisch ist ST$ recht schnell nur noch Highspeed-Touchscreentippen. 3 von 5 Macs.
App Store ein Goldesel
Die Milliarde Apples ist, aus anderer Perspektive betrachtet, eine vernachlässigbare Summe. Zwar könnte man damit über 6.900mal alle Apps im App Store kaufen, aber in anderen Kontexten muss man eine überstrapazierte Metapher bemühen, die mit Erdnüssen zu tun hat. Mehr zur untenstehenden Grafik hier. Ob man mit einem funktionierenden Sinn für Größenordnungen glücklicher ist als ohne einen solchen, wenn man die Relationen zwischen doch recht langfristigen Geldverbrauchern wie Apolloprogramm oder Vietnamkrieg und den staatlichen Bürgschaften und Zuschüssen anlässlich der Finanzkrise betrachtet, sei dahingestellt.
Dass man sich trotz geordneter und überschaubarer Mega-, Giga- und Tera-Präfixe in der IT-Branche gelegentlich vom Zahlenanalphabetismus betroffen sieht, fiel mir aber in einem ganz anderen Kontext ein: nicht wegen der Bailoutmilliarden, die angesichts unterschiedlicher Virtualitäts- und Realitätsgrade ohnehin immer etwas schwer zu fassen sind, sondern anlässlich einer Erwähnung von Intels Nehalem-Architektur. Irgendwie fiel mir die Frage ein, aus wieviel Transistoren heutzutage eigentlich eine gängige CPU aufgebaut ist. Der 486 war seinerzeit jenseits der Ein-Millionengrenze, der Nehalem ist bei 731 Millionen Transistoren angekommen. Ich hatte vor dem Wikipedia-Nachschlagen aus dem bauch heraus auf um die 200 Millionen getippt und dachte anschließend, zumindest in der Größenordnung richtig gelegen zu haben. In diesem Kontext fiel mir ein vergleichsweise alter Text von Douglas Hofstadter ein, in dem er eine gewisse Art des „Zahlenanalphabetismus“ beklagte: das Phänomen, wenn Menschen Zahlen und ihre Größenordnungen schlicht nicht einordnen können. Er riet zum gelegentlichen Trainieren, um zumindest eine bessere Vorstellung der täglich gelesenen und gehörten Millionen und Milliarden verschiedener Kontexte zu haben. Was sind „typische“ Werte in welchen Größenordnungen? Die 80 Millionen Einwohner Deutschlands, die 45 Milliarden, die Yahoo für Microsoft wert waren, die 5 Billionen Kippen, die jährlich weltweit geraucht werden, sind solche „Orientierungspunkte“ für große Zahlen. Wieviel Bytes werden wohl im Netz durchs Tag transportiert? Spontan würde ich auf was in Richtung 10 hoch 20 tippen.
Chrome OS und der Interessenkonflikt
Genug der zeitlosen Themen und zurück zum Aktuellen. Wobei der Streit um das beste Betriebssystem ungefähr so alt ist wie die Betriebssysteme selber. Nun die nächste Runde mit Google Chrome OS. Wenn Windows protestantisch und der Mac katholisch ist, wie Umberto Eco schon vor längerer Zeit schrieb, dann dürfte Chrome OS wie eine Scheibenweltreligion wirken: die göttlichen Mächte scheuen sich nicht, auch mitten im Alltagsleben der Anhänger zu wirken, und ihre Macht wächst exponentiell zur Zahl ihrer Anhänger. Ihr Handeln wirkt gelegentlich unbegreiflich, gelegentlich allzu menschlich, manchmal skurril und immer irgendwie beta. Alles Eigene muss der Transzendenz, der „Cloud“ (!) anvertraut werden und wird dort dem unergründlichen Wirken der Spider Googles unterworfen. Anschließend kleben nicht nur an der Privatpost die Werbezettel, sondern auch an den Fotoalben oder den Akten. Außerdem wird Falun Gong prophylaktisch ausgeblendet, wie eines der schöneren „Undocumented Features“ von Chrome OS lautet. Mein persönlicher Favorit der Liste: „Das integrierte Steuerprogramm hat einen „Auf gut Glück“-Button.“ Dennoch scheinen die Kriege von einst ein wenig an Vehemenz verloren zu haben. Friedlich koexistieren die OSe nebeneinander, und ein „Das ist das Ende von Microsoft!!11einseinself“ klingt fast ein wenig nach „Opa erzählt vom Krieg“.
Tote Technologien
Währenddessen sterben Technologien anderswo unbeachtet vor sich hin. Mobile Fernseher seien tot, gemeuchelt von iPhone und Konsorten. Während wir ungerührt Videos via IP auf unseren Gadgets gucken, begräbt die TV-Branche gerade eine Gerätegattung, von der man kaum was mitbekommen hat. Über 12 Jahre hinweg sei am mobilen Fernseher gewerkelt worden, nun könne man alles in der Richtung einstampfen. Ein „nettes Produkt, für das niemand was zahlt“, seien tragbare Fernseher, und ich muss gestehen, mehr als vage Erinnerungen, die vermutlich mit Conrad-Katalogen zusammenhängen, kann ich zum Thema auch nicht beisteuern.
Ganz nebenbei wird der Overheadprojektor nächstes Jahr 50 und obgleich er angesichts von Powerpoint und Keynote schon totgesagt und totgesungen wurde, traf ich letztens beim Einkauf noch noch zwei Vertreter des zuverlässigen Einschläferers zu Schulzeiten an. Technologiebiografien, fast wie das wirkliche Leben: wechselvoll, mal kurz, mal lang, und gelegentlich auch etwas grausam.
Andere Branchen, die irgendwie auch leicht gestrig scheinen, sind noch unkaputtbarer: im letzten Fortune-Ranking stieg Apple vom Platz 337 auf 253. Neu auf Platz eins und zwei: Royal Dutch Shell und Exxon. Umsätze im letzten Jahr: 458 und 442 Milliarden, und um zum Schluss wenigstens einen Bogen zu schlagen: Kann sich jemand was darunter vorstellen? Schönes Wochenende.