Kommentar: Schöne neue Sichtbarkeit im Web, Made with a Mac, too
rj, den 15. Januar 2009Einige Tage sind seit der MWSF vergangen, die Gemüter wieder ein wenig ruhiger geworden – Zeit, sich eines Themas anzunehmen, das bislang weniger mac-spezifische Aufmerksamkeit genossen hat. Die „schöne neue Sichtbarkeit“ trifft den Sachverhalt vielleicht besser als die zurecht vielbeschworene Überwachungsgesellschaft – denn sie kommt schön, intuitiv bedienbar und hübsch verpackt auch mit den neuen iPhoto-Features von Apple ins Haus. Warum Picasa, iPhoto und die dazugehörigen Gesichtserkennungsdienste ein wenig mehr mitbringen als automatische Such- und Sortierroutinen plus mehr Benutzerfreundlichkeit, und was das ganze mit der Disziplinargesellschaft zu tun hat: ein paar theoretische und praktische Betrachtungen.
Der Panoptismus in der Welt
Vom „Panoptismus“ ist gelegentlich die Rede, wird von der modernen Welt mit ihren zahlreichen Sichtbarkeiten und Überwachungsmöglichkeiten gesprochen. Neben Orwells „Big Brother“ erfreut sich die Metapher vom Panoptismus zunehmender Verbreitung, und vermutlich hat sie auch mehr mit unserer heutigen Lebensrealität zu tun als der eine große, beobachtende Bruder aus „1984“. Das Prinzip des Panopticons: man weiß nicht mehr so recht, ob und von wem man gerade beobachtet wird, ob man sichtbar ist oder sichtbar werden könnte, und entsprechend verhält man sich. Nicht (nur) für einen staatlichen Beobachter sind wir insbesondere im Netz sichtbar, sondern vor allem für unsere Freunde, Buddies, Kontakte, Blogleser und so weiter. Alles liebe Menschen, sonst wären sie schließlich nicht in unserem Online-Freundeskreis. Und diesen Satz will ich nun gar nicht demontieren, sondern vielmehr zum Nachdenken darüber anregen, was für Folgen Dienste wie Apples runderneuertes iPhoto‘09 oder Googles Picasa trotz (und wegen?) dieser „freundlichen Umwelt“ haben könnten.
Denn nicht nur unser soziales Internet-Umfeld ist freundlich zu uns, auch und gerade die Software Apples ist berühmt dafür, dass sie es gut mit den Usern meint. Wir verdanken Apple Benutzeroberflächen, bei deren Beschreibung man das Wort „intuitiv“ nutzen kann, ohne sich auf die Zunge beißen zu wollen. Ebenso die Philosophie, dass sich der Rechner doch bitte nach dem Menschen richten soll. Beispiele sind Spotlight oder iTunes: in beiden Fällen nimmt Apple dem User die Verwaltung und Organisation großer Datenmengen ab. Man muss seine Musik nicht mehr den Ordnerstrukturen eines Rechners anpassen, sie nach Interpreten, Genres, Alben sortieren: all das nimmt uns der Rechner ab. Dasselbe gilt für Spotlight in Bezug auf Daten und Texte. Bedienerfreundliche Grundprinzipien, die konsequenterweise nun auch auf Bilder ausgeweitet werden. Kaum jemand, der einmal diese DSC-irgendwas.jpg mit diesem einen Motiv in einem 200GB-Ordner gesucht hat, wird das schlecht finden.
Ist das nutzerfreundlich, oder kann das weg?
Was nur auf der heimischen Festplatte passiert, wird auch die etwas paranoideren Zeitgenossen nicht unbedingt beunruhigen. Der Dienst am User hört aber nicht an der Netzwerkschnittstelle auf, denn neben Gesichtserkennung und Geotagging ist auch gleich die Integration von Facebook und Flickr dabei – denn wer will seine Bilder nach dem Upload nochmal taggen, lokalisieren und gesichtserkennen? Eben. Der Panooptismus kommt als Feature, als Dienstleistung, als durchdacht und userfreundlich umgesetzte Technologie, die man nicht mehr missen will, wenn man sie erst genutzt hat. Und es ist nur logisch, dass es Apple iPhoto 09 zum Macworld Expo Best of Show 2009 gebracht hat. Dass hier eine Applikation vorgestellt wurde, die dazu dient, große Mengen von Bildern auch und gerade von anderen Leuten mit deren Namen zu versehen und sie im Netz zu publizieren, war an sich klar und allen zweifelsohne bewusst – zum Thema wurde allerdings nur die durchdachte, userfreundliche Umsetzung. Wie man sie eben von Apple kennt.
Nun ist hier Apple nicht Erster, Googles Picasa bringt ähnliche Funktionalitäten mit. Überhaupt, Google: dass die Suchmaschine ganz ähnliche Beobachtungseffekte zeitigt, weiß jeder, der sich schon einmal selbst gegoogelt hat. Hier ist die Egopflege bereits in vollem Gang, überlegen sich nicht mehr nur die Internet-Werker, welche Informationen sie gefunden wissen wollen und welche besser auf der heimischen Platte bleiben. Für das Sauberhalten der eigenen Google-SERPS gibt es inzwischen Dienstleistungsangebote, und wenn Dritte über einen schreiben? Von der netten Mail bis zu den jahrelangen Gerichtsverfahren um Persönlichkeitsrechte und Löschaufforderungen hat das Netz auch schon alles gesehen. Nun gibt es dasselbe noch ein Stück weiter automatisiert und auch fürs Bild.
Ob Google, Picasa, iPhoto 09: den jeweiligen Techniken ist gemein, dass unter Beteiligung aller davon Betroffenen ein „Sichtbarkeitsregime“ geschaffen wird, das bis heute in erster Linie als Möglichkeit, Verbesserung, Informationsquelle betrachtet wird – weshalb auch jeder irgendwie mitmacht. Selbstverständlich gibt es auch Kritik. Bei Google findet sie seit einiger Zeit recht regelmäßig statt, im Mac-Lager überwiegt in der Regel die Begeisterung – und vordergründig bleibt es schließlich jedem selbst überlassen, wie weit er sich dieser Sichtbarkeit aussetzt. Naheliegend ist dann der Hinweis, dass es auch Dritten offensteht, andere „sichtbar“ zu machen. So wird es zur Verantwortung des Einzelnen, seine Sichtbarkeit zu prüfen und gegebenenfalls gegen diese vorzugehen. Das trägt wiederum nicht gerade zur Beliebtheit bei, ob nun im Freundeskreis oder im großen, weiten Internet: man muss im schlimmsten Fall mit rechtlichen Schritten drohen, abgesehen von der „sozialen Hemmschwelle“ – wer ist schon gern der Spielverderber, der seine Bilder von der Party verpixelt haben will? Eine Eigendynamik, die recht schwer zu bremsen ist und einmal mehr aus allen Richtungen wirkt.
Sichtbarkeit
Denn „sozialer Druck zur Sichtbarkeit“ wird für immer weitere Lebens- und Gesellschaftsbereiche – auch aus handfesten Eigeninteressen – erzeugt. Die Warnungen „Achtung, ein Personalleiter könnte nach eurem Namen googlen!“ klingen inzwischen leicht angestaubt. Es wird also nicht mehr lange dauern, bis gewarnt wird, die potentiellen Arbeitgeber könnten das tun und dann nichts finden. Denn: will man wirklich so unaufgeschlossen gegenüber neuen Kommunikationsmedien wirken? Erweckt sowas nicht den Eindruck, man wäre zu dumm fürs eigene Blog? Hat man der Welt nichts mitzuteilen, ist man politisch, gesellschaftlich, kulturell derart desinteressiert, dass man sich nirgendwo im Netz sichtbar als Person einzubringen weiß? Hat man keine Freunde, die einen gelegentlich mit aufs Bild nehmen? Würde man eine solche Person einstellen wollen?
Anders herum wiederum: wie weit wird Verhalten in der Öffentlichkeit automatisch immer angepasster, konformer, unkritischer – wenn immer schwerer einzuschätzen ist, ob und wie es möglicherweise dokumentiert, veröffentlicht und Mechanismen wie (Geo)Tagging, Personenerkennung etc. unterworfen wird?
Die zuletzt beschriebenen Überlegungen sind nun nicht sonderlich macspezifisch. Der Mac spielt dennoch seine Rolle in der ganzen Angelegenheit: denn Apple hat es immer wieder geschafft, zu einer Art Schnittstelle zwischen technischer Avantgarde und einfacher Alltagsnutzung zu werden. Was Apple macht, ist hip, aber es ist eben auch allgemein verfügbar und verwendbar. Fortschrittlichste Technologie alltagstauglich zu machen ist vielleicht die Kurzform eines der Schlüsselprinzipien, dem Apple seine Erfolge verdankt. In dieser Alltagstauglichkeit, besser sogar „Alltagsnützlichkeit“, sind nun Technologien angekommen, deren gesellschaftliche Auswirkungen noch nicht recht absehbar scheinen. An ihren Folgen werden wir aber mit Sicherheit noch einige Freude haben.