Alexander Trust, den 20. Februar 2006

Irrige Kopfgeburt

Kopfgeburt
Kopfgeburt, Bild: CC0

Man kann sie mögen oder nicht. Man muss sie kennen, um sie zu mögen. Die Rede ist von der zweiten Moderne, nicht der Postmoderne, denn das ist nicht dasselbe, vielleicht aber das Gleiche. Begriffe dienen der Erklärung, so auch der der Leitkultur, doch wer möchte schon eine irrige Kopfgeburt erklären lassen, was ihm für die Welt vorschwebt? Wer möchte einen roten Faden spinnen, der jedem vorgibt, wie er den Minotaurus überlistet, ihm ein Schnippchen schlägt, wenn das am Ende nicht der Ausweg ist? An dieser Stelle zeigt sich der erste Haken an der Sache mit der Leitkultur. National soll sie sein, wo wir doch vorgeben, global zu denken.

Manch Initiator dieser Kopfgeburt spricht sogar von privilegierten Partnerschaften mit – wie es scheint – nicht ebenbürtigen Partnern?! Wir haben die Heterogenität entlarvt – na und?! Wir haben die Individualität gefunden – na und?! Aber wir haben im Unterschied, dem Streben nach Distinktion, das Gemeinsame, alle als Angehöriger einer Rasse ein Teil dieser Welt zu sein, nicht zu vergessen! Wir rufen den Abschied vom Nationalstaat aus, besser noch heute als nie. Es heißt, über seinen Schatten springen, Altlasten hinter sich lassen, die so schwer wiegen, dass niemand ihr tatsächliches Gewicht beziffern kann. Es heißt auch, vergeben können, neu anfangen können und gemeinsam nach einer Lösung für die bessere Welt zu suchen, nicht mit einem privilegierten Etikettenschwindel. Wir legen damit ein Bündel, ein Knäuel – wir legen damit Probleme ad acta, die nie jemand als existenziell empfunden haben kann, wo tagtäglich Abertausende den Tod finden – sinnvoll oder sinnlos – und legen uns trotzdem wieder Steine in den Weg, weil es einer Leitkultur bedarf, um glücklich zu sein. Muss das sein? Wir schreiben das Jahr 2005 und unterzeichnen hoffentlich, die Machtgelüste so mancher Delegierter unterdrückend, eine EU-Verfassung, die im gemeinsamen Denken einen Schritt vorwärts bedeutet. Werden wir gefragt? Wenn wir noch rechtzeitig auswandern, könnte man uns fragen. Werden wir übergangen? Wenn wir hier bleiben, wird es wohl so kommen. Müssen wir Angst haben? Keineswegs!

Ein Gedankenbeispiel gefällig? Bald auch eine Kopfgeburt: König Fußball regiert den Nationalstaat, doch erst in einem Jahr. Bis dahin, könnte man denjenigen vorwerfen, die von einer Inthronisierung der Leitkultur absehen, wird desselben Königs Grab geschaufelt werden, oder? Immerhin, ohne Leitkultur kein nationales Ehrgefühl, oder? Kein Engagement? Kein kulturelles Erbe? Mitnichten! Gesetzt den Fall, es wäre so (wie es jetzt schon ist? – Ohne Leitkultur), dann gäbe es fortan keine Nationalmannschaft mehr. Doch ohne Nationalmannschaft kein Kräftemessen der Nationen im eigenen Land, sollte man annehmen, ein wirtschaftlicher Ruin in ungekannter Größenordnung. Können wir uns das leisten? Steht uns das gut zu Gesicht? Der Preis ist hoch, ist er zu hoch? Wir müssen den Hebel umlegen, müssen die Kopfgeburt Kopfgeburt sein lassen und sie zum einfachen Etikett umfunktionieren, und damit den Begriff der Leitkultur seiner ideologischen Wesensfülle berauben, die ohnehin nur kraft Einbildung existiert. Im Anschluss zaubern wir König Fußball erneut aufs Tapet, so als wäre nichts gewesen. Dies zu bewerkstelligen wird nicht einfach. Wir müssten immerhin die Einbildung der Leitkultur gegen das gleichnamige, nicht eingebildete, nicht arrogant wirkende, hohle, leere, einfache Etikett tauschen. Insgesamt weniger national, hinter den Gedanken der Globalität zurücktretend. Der Zustand wäre nicht derselbe und doch schiene er hinreichend ähnlich. Man hätte die Ideologie, den Machtanspruch, die Distinktion, all das hätte man ausgehöhlt und zu einer Phrase verkommen lassen, um die es nicht zu diskutieren lohnt. Trotz allem bleibt an der Stelle der Leitkultur kein Vakuum zurück, können wir doch heute schon atmen ohne die Luft anzuhalten. Sein Platz, der jetzt leer wirkt, wenngleich er nie voll war, könnte von einer weltumspannenden Vision eingenommen werden, die Science-Fiction wahr werden ließe. Folglich könnten wir die Ballartisten unter dem bloßen Etikett ihres Nationalstaats, nie vergessend, dass wir alle nur auf der einen Welt leben und der einen Spezies angehören, wieder auf das Spielfeld schicken (oder immer noch?), ins Rennen um den Preis auf Anerkennung für die Gemeinschaft, die erkannt hat, dass sie auch und vor allem ein Teil der globalen Gesellschaft ist.

Was wird sich demnach ändern? Nichts?! Alles?! Wer wird es verstanden haben, und müssen es alle verstehen, damit sie davon profitieren können? Sicher nicht. Doch vergessen sollten wir sie trotzdem nicht. 4.000.000 Analphabeten, die uns die OECD in einer Studie schenkt, bilden in der Skizze auf dem geduldigen Gemenge von chlorfrei gebleichtem Papier eine Teilmenge der schönen heilen Welt von – euphemistisch formuliert – über 5.000.000 Millionen Arbeitsuchenden. Sie reichen sich den Stab und nicht den Kelch, warten gespannt, welche neue Bedrohung sich an einer entwickelten Leitkultur reiben kann. Aber auch nur, wenn man ihnen erklärte, was das überhaupt ist und welchen Sinn es macht, davon zu sprechen. Sie schürten fortan die Funken im Feuer ihres kulturellen Erbes, das ihnen jetzt weder bewusst noch gegenwärtig ist. Niemand zeigt ihnen, was einmal gewesen ist – Deportationen, Massengräber, Pogrome … –, worauf sie stolz sein könnten – Luther, Lenz, den eigenen Leib –, und keiner weist ihnen den Weg in die Zukunft, entlang an den neuerlichen Polen der Macht. Letztere müsste man einfach nur verdrängen wollen und im Sinne einer kleindeutschen Lösung auf eine Leitkultur pochen, und bereit sein, notfalls mit seinem eigenen Leben für diese Begriffsdefinition in die Bresche zu springen. Sie, die Analphabeten, Arbeitsuchenden und manche Anarchisten, hätten die Qual der Wahl, zwischen einem eindeutigen Ja und einem klaren Nein, zwischen Szylla und Charybdis, Marktwirtschaft und Terrorismus, die nicht nur sie, sondern uns alle bedrohen und sich gegenseitig aufstacheln zu noch unüberlegterem Handeln jenseits von Nachhaltigkeit. Wenn sie dies doch nur verstehen könnten, ihren eigenen Kleingeist überwinden könnten und mit den großen Gespenstern unserer Gesellschaft spielen dürften… Würden sie sich dann vielleicht ihr eigenes Bettlaken zurück wünschen? Würden sie, wenn sie die Erfahrung, zu wissen, was es in der Welt noch alles gibt, ein Mal gemacht haben, das Denken nicht lieber den Anderen überlassen? Fragen wir sie doch einfach, anstatt uns in ihrem Namen den Kopf zu zerbrechen.

Nachdem der Gedanke der Irrigkeit verklärt erscheint, mag nun die Kopfgeburt der Leitkultur endlich auf die Bretter treten, die die Welt bedeuten, im Kleinen und im Großen. Doch, ach: Christdemokraten, Grüne, Liberale, Sozialdemokraten und all die anderen Facetten, linke und rechte, die sich einbilden, ein Teil des Ganzen zu sein, stellen in Wirklichkeit alle bloß ein Puzzleteil dar, das zu je ihrem eigenen Portfolio gehört und nicht in das des anderen passt, richtig? Falsch! Sie machen sich nur allesamt das Leben zu schwer, keine Gedanken darum, was sie verbindet, suchen ihr Heil viel lieber in den Dingen, ganz gleich, ob in der Form eher einer Mücke oder einem Elefanten entsprechend, die sie differenzieren, distinguieren, separieren. Kein Wunder also, wenn die Kopfgeburt, wenngleich in manchen Augen irrig, dennoch eine Kopfgeburt bleiben muss. Es führt – so oder so – kein Weg daran vorbei, sollte man meinen und wird man zum Teil sogar glauben gemacht. Gibt es Wichtigeres? Zumindest gibt es wohl keine Augen, dort in der Sphäre der Entscheidungsträger, mehr und mehr zu Würdenträgern verkommend, die sich genügend an der Figur der Leitkultur ergötzen wollen, um aus der fahlen Vision einen handfesten Begriff zu zaubern, den am Ende die verstehen, die ihn verstehen wollen und ihn verstehen können.

Das Zeitalter der Aufklärung ist Geschichte. Wer also will das Proletariat schützen, ihm eingeben, was es zu denken hat? Es wird Zeit, Zeit für einen epochalen Neologismus, der auf Aufklärung stürmt und drängt, eine Renaissance. Leitkultur, was ist das? Ein Zeugnis? Aber wofür? Dinge, die uns verbinden, finden sich seit langem nicht im humanistischen Bildungsideal vergraben, selbst dann nicht, wenn man die Analyse nicht auf der Oberfläche enden, den Spaten nicht nur Spaten sein lassen wollte. Der Wind weht aus einer anderen Richtung, der Ton dazu stammt von einer anderen Triade, die sich ein weiteres Mitglied ins Boot des Common Sense geholt hat. Marken, Margen und Medien bilden mit Mythen den Torf, auf dem die intelligente Saat von Morgen gedeihen soll. Kosmopoliten waren gestern. „Player“, hallt es von jenseits des großen Teiches zu uns Europäern herüber – nicht alles was von drüben kommt, muss schlecht sein. Player sind heute diejenigen, an denen der Zahn der Zeit am ehesten bewusst nagt, weil sie am Ball bleiben wollen und können; sie gehören zu denjenigen, die mit dem Lauf der Dinge weder hadern noch auf dem Kriegsfuß stehen, zu denjenigen, denen die Zeit zur Erfüllung ihrer Lebensaufgabe davon rennt. Ihre Grenzen lassen sich nicht über Leitkultur definieren, ihre Ziele sind einzig abhängig von der eigenen grenzenlosen Phantasie, die nicht Halt macht vor Konstrukten von Raum und Zeit, Kopfgeburten, welche gerade überwunden werden wollen, wenn man im Unterschied die Gemeinsamkeit entdecken will.


Ähnliche Nachrichten